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Wissenschaft - Wahrnehmungspsychologie

Geschichte und Ansätze der Wahrnehmungspsychologie

In dieser Rubrik wollen wir einen direkten und zeitgenössischen Bezug zu einem einzelnen Fachbereich der Wissenschaft bringen, den wir für lesenswert erachten unter unserem Monatsthema:


 

 

 

 

Expertenveröffentlichung:
Prof. emerit. Rainer Mausfeld

 


Text / Auszug:

„Unter allen psychischen Phänomenbereichen erscheint uns aus unserer Alltagsperspektive die Wahrnehmung am selbstverständlichsten und somit am wenigsten erklärungsbedürftig zu sein. Historisch entstand das Interesse an der Wahrnehmung aus der erkenntnistheoretischen Frage, wie sich ein Wissen über die Welt auf der Basis der durch die Sinne vermittelten Informationen rechtfertigen ließ. Diese von den Vorsokratikern erstmals systematisch untersuchte Frage markiert den gemeinsamen historischen Ursprung von Erkenntnistheorie, Physik und Wahrnehmungspsychologie. In der damit einhergehenden „Entdeckung des Geistes“ (Snell, 1975) und dem daraus resultierenden Spannungsfeld des Verhältnisses von, Innenwelt und, Außenwelt’ konnte sich - mit Fechner und Helmholtz – die Wahrnehmungspsychologie erst als eigenständiger Forschungsbereich konstituieren, nachdem Erkenntnistheorie und Physik ein ausreichendes Fundament für ihre Entwicklung bereitgestellt hatten.  

Unsere Alltagsintuition zur Wahrnehmung, der zufolge uns die Wahrnehmung - bis auf einige Ausnahmen sowie neurophysiologische Details - wenig erklärungsbedürftig erscheint, erweist sich bei einer solchen systematischen Untersuchung der Wahrnehmung als irreführend. Denn wir sind gerade so gebaut, dass unser Gehirn die Funktionsweise der Wahrnehmung fast vollständig vor uns, d.h. vor unserer bewußten Erfahrung, abschottet und uns nur das Endprodukt des Wahrnehmungssystems in einigen Aspekten bewußt werden läßt. Wir haben also keinen privilegierten introspektiven Zugang zu den Prinzipien, die seinen Leistungen zugrunde liegen. Daher sind wir auch nicht in der Lage zu erkennen, dass der Eindruck der Einheitlichkeit unseres Erlebens selbst wiederum eine Leistung des Gehirns ist und nicht seiner funktionalen Architektur entspricht. Während bereits die Vorsokratiker die Notwendigkeit einer Unterscheidung unterschiedlicher Subsysteme des Geistes erkannten und insbesondere die als eher rezeptiv angesehenen Sinne einem mit einem Urteilsvermögen ausgestatteten Verstand gegenübergestellten, trennt unsere Alltagspsychologie nicht zwischen der Leistung des Wahrnehmungssystems und den höheren kognitiven Instanzen, die von ihm Gebrauch machen (da sie überhaupt keine Unterscheidung in funktionale Komponenten macht). Daher neigt sie dazu, eine Diskrepanz zwischen unserem Wahrnehmungseindruck einerseits und Erwartungen über physikalische Aspekte der Außenwelt andererseits dem Wahrnehmungssystem zuzuschreiben und als Täuschung des Wahrnehmungssystems anzusehen. Das Konzept der Wahrnehmungstäuschung ist kennzeichnend und zentral für unsere Alltagsintuitionen zur Wahrnehmung. Es wurde jedoch schon sehr früh als hinderlich für eine wissenschaftliche Untersuchung der Wahrnehmung erkannt. Mit der Unterscheidung der Sinne von einem urteilenden Verstand war es nur folgerichtig anzunehmen, dass die Sinne nicht irren können, sondern dass nur der Verstand sich in der Interpretation der durch die Sinne gelieferten Informationen irren kann. Diese theoretische Einsicht gehört zu den seit der Antike (z.B. Aristoteles, De anima 427 b) tradierten Errungenschaften der Untersuchung der funktionalen Architektur des Gehirns/Geistes. Sie durchzieht die gesamte abendländische Denkgeschichte und findet sich wieder bei Kant, der bemerkt: „Die Sinne betrügen nicht. …weil sie gar nicht urteilen, weshalb der Irrtum immer nur dem Verstande zur Last fällt.“ (Anthropologie, I, §10). Da das Konzept der Wahrnehmungstäuschung in unseren Alltagsvorstellungen einen so zentralen Platz hat, betonte auch Helmholtz noch einmal: „Das Sinnesorgan täuscht uns dabei nicht, es wirkt in keiner Weise regelwidrig, im Gegenteil, es wirkt nach seinen festen, unabänderlichen Gesetzen und es kann gar nicht anders wirken. Aber wir täuschen uns im Verständnis der Sinnesempfindung.“ (Helmholtz, 1855, p. 100) Dass erstaunlicherweise das Konzept der Wahrnehmungstäuschung noch immer in weiten Teilen der Wahrnehmungspsychologie einen festen Platz hat, ist ein Indikator dafür, wie sehr weite Bereiche der Wahrnehmungspsychologie weiterhin der Alltagspsychologie verhaftet sind und sich somit noch, verglichen mit der Entwicklungsgeschichte der Physik, in einem gleichsam vorgalileischen Stadium befinden ...“

(den vollständigen Artikel finden Sie über diesen Link als frei zugänglichen download)

https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Wahrnehmung_Theorieperspektiven.pdf


 

Rainer Mausfeld (* 22. Dezember 1949 in Iserlohn) ist ein 2016 emeritierter deutscher Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Wahrnehmungspsychologie, Kognitionswissenschaft und Geschichte der Psychologie.

In seiner 9seitigen wissenschaftlichen Abhandlung, die als gängige Lehrmeinung Einzug in ein allgemeingültiges psychologisches Nachschlagewerk gefunden hat, geht Prof. Dr. Mausfeld auf die geschichtlich tradierten Grundlagen der Wahrnehmung des Menschen ein und auch: welche grundlegenden Fragestellungen aktuell verfolgt werden, um dem Geheimnis der Wahrnehmung und wie der Mensch „Bedeutung“ hieraus generieren kann, auf die Spur zu kommen.

Quelle: Funke, J. & French, P. (Hrsg.) (2005).  Handwörterbuch Allgemeine Psychologie: Kognition. Göttingen: Hogrefe.

 

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