Familienleben als spiritueller Weg
Ein Interview mit Myla und Jon Kabat-Zinn (im TRILOGOS 2004)
"Das Familienleben lässt sich als meditativer Weg sehen, der es den Eltern ermöglicht, innere Weisheit, Liebe und Mitgefühl zu entwickeln, und den Kindern, zu ausgeglichenen Menschen heranzuwachsen.“
Eine überraschende Vorstellung
Eltern zu sein ist eine der anstrengendsten Aufgaben, die es gibt - vor allem, wenn wir sie mit Sensibilität, Achtsamkeit und wirklicher Zuwendung für das neue Menschenwesen ausüben wollen. Um so überraschender ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung, das Familienleben als einen meditativen, spirituellen Weg zu sehen - einen Weg, der die Entwicklung von innerer Weisheit, Liebe und Mitgefühl ermöglicht und es gleichzeitig mit sich bringt, dass Kinder zu harmonischen, ausgeglichenen Menschen heranwachsen können, die auch die innere Kraft besitzen, sich den Herausforderungen unserer Welt auf kreative Weise zu stellen.
Diese Auffassung vertreten Myla und Jon Kabat-Zinn, und sie haben ein neues Buch geschrieben – Mit Kindern wachsen – Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie – um andere Eltern an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Es war das erste Mal, dass sie gemeinsam ein Buch schrieben. „Es war ein wunderbarer kreativer Prozess“, erinnert sich Myla. „Die gemeinsame Erfahrung des Elternseins zu nehmen, die Dinge, die uns jeweils am wichtigsten waren in eine schriftliche Form zu bringen und zu einem Ganzen zusammenzufügen war zutiefst befriedigend.“ Das Buch, das in diesem Prozess entstand, ist aussergewöhnlich reich an Einsichten und anschaulichen Geschichten und kann allen Eltern – ob von kleinen oder schon erwachsenen Kindern – helfen, das Potential zu erkennen, das in ihnen und ihren Kindern liegt.
Eltern sein als Abenteuer
Was hat euch veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Jon: Eltern zu werden, hat uns von Anfang an zutiefst inspiriert. Wir betrachteten es als Abenteuer, etwas, auf das wir uns ganz bewusst einlassen wollten und bei dem wir unseren eigenen Weg gehen wollten. Wir wollten diese Aufgabe mit soviel Achtsamkeit wie möglich angehen.
Myla: Bevor ich selbst Mutter wurde, hatte ich nicht sehr viel Erfahrung mit Kindern. Aber als unser erstes Kind dann da war, wurde ich durch die enorme Kraft seines Seins in diese Erfahrung geradezu hineingezogen. Ich wollte meine Aufmerksamkeit ganz auf das Stillen und das Muttersein konzentrieren, und je mehr Aufmerksamkeit ich gab, desto mehr innere Kraft erhielt ich selbst wieder zurück. Dabei wuchs auch meine Fähigkeit, mich in das Baby einzufühlen und zu spüren, was es von mir brauchte. Und dieser Prozess setzte sich fort, während unsere Kinder älter wurden.
Wir erkannten, dass je mehr wir uns ihnen zuwandten - wobei wir uns darin übten, sie in jedem Moment ganz und gar als die anzunehmen, die sie waren, was eine harte Praxis ist - desto besser war es für sie und ihre harmonische Entwicklung. Sie anzunehmen, Empathie und das Bewusstsein ihrer grundlegenden Unabhängigkeit und Eigenständigkeit sind wirklich die Grundlage von dem, was wir mit der Praxis der Achtsamkeit in der Familie meinen. Diese Orientierung stellte sich sowohl für unsere Kinder als auch für uns selbst als sehr transformativ heraus.
Tun aus dem Sein
In eurem Buch schreibt ihr, dass Elternschaft dazu inspirieren kann, eine Art der inneren Arbeit zu tun, die nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern zugute kommt.
Jon: Eltern zu werden birgt auch den Ruf zum Erwachen in sich - die Möglichkeit, aus dem üblichen automatischen, unbewussten und unbefriedigenden Zustand zu erwachen, in dem wir einen Grossteil unserer Zeit verbringen. Eltern zu werden ist eine wunderbare Gelegenheit für uns, weniger mechanisch zu werden und nicht soviel Zeit an der Oberfläche unserer Erfahrung zu verbringen, sondern uns unseren Kindern voll und ganz zuzuwenden, unsere Beziehung zu ihnen bewusst zu pflegen und uns dafür zu entscheiden, das im Auge zu behalten, was uns im Leben wirklich wichtig ist.
"Die innere Arbeit der Achtsamkeit in der Familie
ist eine tiefe spirituelle Praxis."
(Thich Nhat Hanh)
Myla: Vor allem wenn die Kinder älter werden, kann es leicht geschehen, dass unser Leben ziemlich hektisch wird und wir von dem Gefühl gefangen genommen werden, ständig etwas tun, regeln oder organisieren zu müssen. Die innere Arbeit der Achtsamkeit ruft uns dazu auf, immer wieder unter die Oberfläche zu schauen, so dass der Aspekt des "Seins" unter all dem "Tun" nicht verloren geht…
Jon: ... und unter den Zauberbann, in den wir geraten. Es ist eine Einladung, in unsere Erfahrung einzutauchen und dann das Tun aus dem Sein entstehen zu lassen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie ist eine eigene spirituelle Praxis und zwar eine von besonderer Tiefe.
Was meinst du mit "Zauberbann"?
Im Buch erzählen wir auch einige Märchen-Geschichten, in denen Menschen unter einen Zauberbann geraten. Dies ist eine Metapher, denn wenn du deine Kinder anschaust, kannst du dich auch manchmal fragen: "Was ist nur über sie gekommen? Sie sind ja wie verhext!" Und sehr oft wirst du auch bemerken, dass es nicht nur die Kinder sind, die manchmal verhext zu sein scheinen: "Was ist bloss über mich gekommen?"
Myla und Jon Kabat-Zinn sind Eltern von drei Kindern.
Myla Kabat-Zinn arbeitete vor allem im Bereich Geburtsvorbereitung und -begleitung. Viele Jahre lang war sie Vizedirektorin von Birth Day, einer Organisation zur Unterstützung von natürlichen Geburten. - Jon Kabat-Zinn, u.a. Professor für Medizin an der Universität in Worcester, Massachusetts, ist international bekannt für seine Arbeit, Achtsamkeitspraxis in die medizinische Betreuung zu integrieren. Gemeinsam mit Dr. Saki Santorelli bietet er Seminare und Fortbildungen in Deutschland an.
Bücher
Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie.
Von Myla und Jon Kabat-Zinn. - Das Buch begleitet Eltern durch die Höhen und Tiefen des Elternseins: Schwangerschaft, erste Lebensjahre, Schulzeit, aber auch Erwachsenen-Alter.
Kontaktadresse für Eltern und Erzieher, die sich für die Ideen der Autoren interessieren: www.mit-kindern-wachsen.de