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Elementi 19: TRILOGOS Forum - Ich lebe

Reihe von T. Töndury / Wirtschaftsethik - Gedanken aus der Praxis

2. Teil: Der humane Zweck der Wirtschaft

Menschlichkeit als Zweck der Wirtschaft – wir denken zunächst an menschengerechte Arbeitsplätze, an Menschlichkeit am Arbeitsplatz, dann aber auch an das Verhältnis Mensch – Arbeit.

Durch Einsicht der Arbeitgeber, durch Forderung der Arbeitnehmer, durch staatliche Vorschriften, aber auch durch die Automatisierung monoton repetierter oder gefährlicher Arbeitsvorgänge haben bei uns die Arbeitsplätze eine Ausstattung erhalten, die den menschlichen Bedürfnissen entgegenkommt. Sicherheit und Gesundheit sind heute die wichtigsten Anliegen staatlicher Überwachung. Die Steigerung der Attraktivität des Arbeitsumfeldes (individuelle Arbeitsplatzgestaltung, sanitäre Einrichtungen, Aufenthaltsräume) entsprechend unseren steigenden Ansprüchen an Wohnkomfort war Bedingung für die Behauptung der Unternehmung im während des Konjunkturaufbaus ausgetrockneten Arbeitsmarkt, aber auch Folge der komfortablen Betriebsgewinne: Ausdruck von finanziellem Reichtum! Trotzdem: auch in unserem Land hat die menschengerechte Arbeitsplatzgestaltung nicht überall den erforderlichen Stand erreicht. Die rückläufige Wirtschaftsentwicklung erweist sich in dieser Beziehung als bremsendes Hindernis, da sich Investitionen in die Arbeitsplatzgestaltung nicht kurzfristig und in Geld zurückzahlen. Menschenwürdige Arbeitsplätze sind ein wirtschaftsethisches, nicht ein monetär-wirtschaftliches Anliegen.

Die Betrachtung des Arbeiters / Angestellten als abhängiges, rechtloses Produktionsmittel ist seiner Anerkennung als Mit-Arbeiter und damit als Angehörigem der Unternehmung gewichen. Zu den Mit-Arbeitern zählen alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Topmanager, es besteht eine "Égalité", das heisst eine Solidarität über alle Hierarchiestufen hinweg, ein Zusammengehörigkeitsgefühl aller im gleichen Betrieb Arbeitenden. Damit ist auch die Eigenständigkeit der vom Einzelnen geleisteten Arbeit anerkannt: Kleinere oder grössere in sich geschlossene Arbeitsprozesse mit sichtbarem, beurteilbarem Resultat, von Einzelpersonen oder kleinen Teams ausgeführt statt isolierter, sich ständig wiederholender Handreichungen am Fliessband. Durch die Wahrnehmung einer (Teil-)Verantwortung, durch die Mitsprache und Mitbestimmung am Arbeitsplatz, durch die Wertschätzung des Einzelnen als gleichgestelltes Teammitglied öffnet sich für den arbeitenden Menschen ein Raum zur geistigen und seelischen Entfaltung den wir mit "Menschlichkeit am Arbeitsplatz", einer ethischen Forderung an die Wirtschaft gleichsetzen.

Die Führung von geistig und seelisch freien Menschen ist wesentlich anspruchsvoller als die An-Führung einer Herde von "Arbeitstieren". Statt schweigendem Gehorsam (oft mit der Faust im Sack) begegnen dem Vorgesetzten offene Meinungsäusserungen, Kritik, Widerstand im Dienste der Sache. Von der Führung sind Offenheit für andere Ansichten, Flexibilität bei der Entschlussfassung, Überzeugungskraft in der Durchführung und – vor allem – mehr Zeit gefordert. Der Gewinn zugunsten der Unternehmung besteht darin, dass Entscheide von allen getragen und von jedem in eigener Verantwortung ausgeführt werden. Ein solideres Fundament gibt es für eine Unternehmung nicht!

In wirtschaftlich harten Zeiten, in denen sich der Erfolg nicht quasi von selber einstellt und das Management unter grösserem Erfolgsdruck steht, wird das "Durchgreifen", die Unterdrückung der Freiheit zum abwägenden Mitdenken gefordert: der Ruf nach der starken Hand wird laut, die Durchsetzung der hierarchischen anstelle der fachlichen Kompetenz wird gefordert. Dieser Rückfall in frühere patriarchalische Tradition (anstelle des Patriarchen stehen Management und Aktionäre), in der der alles Besitzende auch als der alles Wissende gilt und deshalb der alle und alles Beherrschende ist, kann nicht von langer Dauer sein: Wer die Freiheit, die Menschlichkeit am Arbeitsplatz einmal erlebt hat, lässt sich diese nicht mehr nehmen. Zudem muss jedes wirtschaftliche Unternehmen von der Basis, von den Menschen getragen sein, die die Arbeit ausführen und das Fachwissen besitzen, sonst wird es langfristig nicht überleben können. In den ehemaligen Ostblockstaaten können wir erkennen, was despotischer Zentralismus auch in der Wirtschaft anrichtet.

Verhältnis Mensch – Arbeit. Arbeit und Fleiss gehören in unserer Gesellschaft zu den Tugenden, zu den Eigenschaften, die den Menschen erst gesellschaftsfähig machen. Arbeitslosigkeit ist ein diskriminierender Makel, der von den Betroffenen schlecht ertragen und als unmenschlich empfunden wird. Arbeitslose sind sozial Behinderte und gehören zu den Randgruppen unserer Gesellschaft, auch wenn sie für ihre Arbeitslosigkeit direkt gar keine Schuld haben. Finanzielle Arbeitslosenunterstützung entspricht dem fundamentalen und sozialen Zweck der Wirtschaft, sie ist eine absolute Notwendigkeit, entschädigt aber nicht für den Verlust des Arbeitsplatzes:

Arbeit zum Selbsterwerb der lebensnotwendigen Güter fordert deshalb der humane Zweck der Wirtschaft, nicht finanzielle Abfindung, wie sie heute in Form von Sozialplänen und Abfindungen üblich ist. Die Erfüllung dieser Forderung bedeutet in Perioden und Regionen mit schwacher Wirtschaft Solidarität. Solidarität der Kapitalgeber gegenüber den Werktätigen (weniger Zinsen zugunsten von mehr Arbeitsplätzen), Solidarität unter den Werktätigen (Verteilung der Arbeit auf mehr Hände unter entsprechender Lohnfolge), Solidarität unter allen Mitgliedern der Bevölkerung (Herabsetzung der persönlichen materiellen Ansprüche zugunsten anderer Menschen). Leider liegt das Gegenteil dem menschlichen Charakter meist besser: Polarisierung, materieller Egoismus statt Solidarität und die Einsicht, dass es dem Einzelnen nur wirklich "gut" gehen kann, wenn sich alle in der Gesellschaft als vollwertige Mitglieder zuhause fühlen können.

Wenn schon bei uns der humane Wirtschaftszweck in der oben beschriebenen idealen Weise nicht überall und in genügendem Ausmass erreicht wird, so gilt diese Feststellung in desto grösserem Ausmass je finanziell ärmer und abhängiger ein Land ist. Mit dem Hinweis auf dieses (Nord-Süd / West-Ost) Gefälle pflegen wir in selbstgefälliger Weise die Missstände im eigenen Land in den Hintergrund oder sogar in die Ver-gessenheit zu schieben. Bei uns sind die Zustände nicht deshalb gut, weil sie andernorts schlechter sind, und wir haben insofern auch nicht das Recht andere zu kritisieren. Wir haben andere Sitten in anderen Ländern ohne Wertung zur Kenntnis zu nehmen: Zum Beispiel ist das Wohnen in Lehm- oder Blechhütten, das wir als menschenunwürdig betrachten, in anderen Gesellschaften durchaus akzeptiert, und der Leistungsstress, den wir für eine Tugend halten, wird von anderen Gesellschaften überhaupt nicht verstanden.

Trotzdem dürfen wir Zustände, die wir in unserem Lande klar verbieten, weil sie die Gesundheit und die Entwicklung beeinträchtigen (Kinderarbeit, Arbeit in ungesicherten Stollen oder unbelüfteten Fabrikanlagen, menschenverachtende Unterdrückung) nicht zu unserem Vorteil ausnützen. Da der Endverbraucher völlig kritiklos ist (er fragt sich vor dem Verkaufsgestell nicht, welche Umstände die tiefen Preise möglich machen sondern greift einfach zu), muss die Wirtschaft ihm diese Verantwortung abnehmen und darf nur Produkte anbieten, für die sie die Erfüllung des humanen Zwecks bei Herstellung oder Gewinnung nach unseren Kriterien garantieren kann. Der Hinweis, dass der Kauf von Gütern, die unter inhumanen Bedingungen entstanden sind, den Menschen der Herkunftsländer bzw. Produktionsbetriebe nützlicher sei als ein Boykott, muss abgelehnt werden, da die Macht unserer Wirtschaft gross genug ist, um menschlich vertretbare Arbeitsbedingungen durchzusetzen und die dafür notwendigen Preise zu bezahlen.

Der soziale Zweck der Wirtschaft

Der soziale Zweck der Wirtschaft ist in der Erfüllung ihres fundamentalen Zeckes und ihres humanen Zweckes bereits enthalten: Wenn die Wirtschaft die Grundbedürfnisse des Menschen in Qualität und Menge zu befriedigen vermag (Erfüllung des fundamentalen Zwecks) und wenn sie dem arbeitenden und arbeitswilligen Menschen Arbeitsplatz und Raum zur geistigen und seelischen Entfaltung bietet (Erfüllung des humanen Zwecks), so hat sie auch für die Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, für die Erfüllung ihres fundamentalen und ihres humanen Zwecks für jeden Menschen auf diesem Planeten.

Der bezüglich der Lebensdienlichkeit unnötige Überfluss an materiellen Gütern bei den einen und der Mangel an existenznotwendigen Gütern bei den andern, wie wir es im weltweiten Spektrum und auch in kleinsten Gemeinschaften feststellen, und die ungleichmässige Verteilung der Arbeit als Erwerbstätigkeit und die generelle Bestrebung , unter der Bezeichnung "Rationalisierung" die Zahl der Arbeitsplätze ständig zu reduzieren, während die Bevölkerung in explosivem Wachstum begriffen ist, lassen Zweifel am Sinn, an der Zweckmässigkeit unseres Wirtschaftssystems laut werden. Es kann nicht Zweck der Wirtschaft sein, solche Gefälle zwischen Reichtum und Armut, zwischen Freiheit und Abhängigkeit zu verursachen und zu verstärken. Im Gegenteil: Es muss im Bestreben der Wirtschaft liegen, krasse Unterschiede zu mildern.

Bei der Verteilungsgerechtigkeit handelt es sich nicht einfach um "Brot und Spiele für alle", mit denen die herrschenden Familien im alten Rom sich die Zufriedenheit und damit die Friedfertigkeit des Volkes zu erhalten trachteten. Es geht ebenso sehr um die jedem Individuum angemessene Ausbildung und entsprechende Arbeitsmöglichkeit, um den Lebensgehalt überhaupt.

In Phasen von wirtschaftlichem Wachstum gibt es mehr zu verteilen und damit entschärft sich das Verteilungsproblem: Der Einzelne ist spendefreudig, davon profitieren insbesondere die gemeinnützigen Organisationen und durch ihre Vermittlung die Bedürftigen. Die Unternehmungen gefallen sich in der Äufnung von sozialen, kulturellen, ökologischen Fonds, aus denen sie Non-Profitprojekte unterstützen. Die Politiker fordern, die Gemeinden, Kantone und der Bund übernehmen Leistungen zugunsten sozial Benachteiligter im In- und Ausland, das soziale Auffangnetz wird immer dichter geknüpft.

In wirtschaftlich schwachen Phasen erwacht dann die Angst vor Verpflichtungen, die den eigenen Wohlstand schmälern, im öffentlichen Haushalt Defizite verursachen könnten. Die Spendefreudigkeit zugunsten gemeinnütziger Institutionen nimmt ab, die Unternehmungen kämpfen um den eigenen Cash-Flow, die Politiker setzen den Rotstift an. Es wird linear gekürzt, auch dort wo es die Schwachen und Schwächsten trifft, auch bei Ausbildung und Kultur, auch in der Entwicklungszusammenarbeit. Es werden Löcher ins soziale Auffangnetz geschnitten: Das Verteilungsproblem spitzt sich zu.

Diese Situation oder Politik der leeren Taschen ist nicht einfach von Nachteil: Geldmangel weckt im Wohlstand eingeschlafene Fantasien für (Hilfe-) Leistungen in anderer Form, veranlasst selbstkritische Abmagerung dort, wo Organisationen mehr und mehr nur noch sich selber und nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck genügen, veranlasst die Politiker über die Setzung von Prioritäten zu diskutieren. Zudem fördert er Initiative, Selbständigkeit und Flexibilität bei der arbeitstätigen Bevölkerung. Trotzdem wächst die Gefahr, dass die ärmeren Völker und Bevölkerungsgruppen in Phasen wirtschaftlicher Unsicherheit sehr rasch noch mehr verarmen. Sicherlich ist diese Verarmung zum Teil Folge selbst begangener Sünden und einer passiven Erwartungshaltung anstelle aktiven Willens zur Selbsthilfe. Es ist aber vom ethischen Standpunkt nicht zu verantworten, dass wirtschaftlich Starke unter Ausnützung ihrer privilegierten Position ihren Reichtum in rezessiven Perioden noch mehren, auch nur länger halten: Die Polarisation zwischen Habenden und Nicht-Habenden nimmt zu, die sozialen Spannungen zwischen den Bevölkerungsschichten, zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost wachsen. Warnzeichen sind zunehmende Kriminalität und die Wanderungstendenzen aus ärmeren in reichere Länder: Was man zuhause nicht bekommen kann, holt man sich dort, wo es im Überfluss vorhanden ist.

Wenn das Geld knapp wird, dürfen Ausbildung, Kultur und Forschung nicht leiden, denn ihre Vernachlässigung hat viel längerfristige Auswirkungen als ein wirtschaftlicher Zyklus dauert, und ein wirtschaftlicher Aufschwung baut sich auf fortgeschrittenem Wissen auf. Es ist deshalb ein grundsätzliches Anliegen, dass Ausbildung, Kultur und Forschung sich nicht in zu grosse Abhängigkeit der Wirtschaft begeben, dass sie eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit bewahren oder sich wieder erschaffen. Sie sind die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Menschheit, die nicht durch wirtschaftliche Berg- und Talfahrten beschleunigt oder gebremst werden darf, sondern ihren kontinuierlichen Verlauf nehmen muss. Mit berechtigtem Neid blicken wir auf die uralten Kulturen weit weg von der Zivilisation, die sich trotz grösster materieller Armut, aber von der Wirtschaft unabhängig in beglückendem Reichtum erhalten und ihr Volk zu tragen vermögen.

Die Verteilungsgerechtigkeit bezüglich Wirtschaftsgüter, Ausbildung und Arbeitsplätze ist die kapitale Herausforderung für die Wirtschaft als Beitrag zur Wahrung des Weltfriedens. Aber wie kann eine solche Gerechtigkeit erzielt werden? Nicht freiwilliges Geben und Helfen kann das Mittel dazu sein, denn dem Anspruch jedes Einzelnen auf Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse und auf Ausbildung kann keine Freiwilligkeit der Leistung gegenüber stehen. Ökonomische und rechtliche Strukturen müssen geschaffen werden, damit daraus für alle – gerade auch für die Benachteiligten – das Höchstmass an Partizipation am erwirtschafteten Sozialprodukt und an der von der Begabung her realisierbaren Ausbildungschancen resultieren kann.

Die Erfüllung dieser Forderung ist nur vorstellbar in geografisch und politisch kleinen, übersichtlichen und autarken Einheiten mit einem Wohlstandsniveau, das überhaupt etwas zur Verteilung anbietet. Aber die Zeiten der hermetisch geschlossenen Landesgrenzen sind vorbei. Unter dem Einfluss verschiedener Motive (Machtpolitik, Mission, Entwicklungszusammenarbeit, Handel, Tourismus) versuchen wir seit Jahrhunderten, unsere Vorstellungen von Zivilisation und Wirtschaft in jeden Winkel der Welt zu tragen, überall mit unseren Wertmassstäben zu messen und entsprechende Bedürfnisse zu wecken. Besonders das Fernsehen bewirkt heute eine totale Transparenz, und da es "unser" Fernsehen ist, sendet es aus "unserer" Optik, in der materielle Armut etwas Menschenunwürdiges, der Überfluss an Gütern mit Glück gleichgestellt ist. Wer den materiellen Reichtum nie kannte, kann sich nicht vorstellen, dass er zwar vieles angenehmer macht, dass er aber ebenso Unzufriedenheit, Selbstsucht, Angst und Isolation bewirkt.

Unsere in alle Lande hinausgetragene Aufklärung verpflichtet uns zur Solidarität über alle Grenzen hinweg, verpflichtet uns, die Verteilungsgerechtigkeit, den sozialen Zweck der Wirtschaft durchzusetzen, obwohl wir dabei – materiell – nur verlieren können. Ob das nicht eine Überforderung ist?!

Fortsetzung folgt.

Tönet Töndury
Schlössliweg 14, CH-8702 Zollikon
e-mail: toendury [at] gmx.net

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