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Elementi 22: TRILOGOS Forum - Ich lebe

Reihe von Tönet Töndury / Gevatter Tod

Erinnerung an das Märchen der Gebrüder Grimm

"Es war einmal" – so beginnt jede Erzählung mit zeitloser Gültigkeit. Sie in der unbestimmten Vergangenheit anzusiedeln und das unpersönliche "es" am Anfang schafft Distanz. Durch die Distanz wächst einerseits das Verständnis für die Botschaft der Erzählung, andererseits auch die Akzeptanz: Der Leser ist nicht direkt angesprochen, es bleibt ihm freigestellt, ob er die Botschaft annehmen oder ob er von ihr unberührt bleiben, das Märchen nur zur Unterhaltung lesen will. Gerade diese Unpersönlichkeit und Freiwilligkeit aber schaffen die Unruhe, die meine Gedanken in Betrieb setzt und in Betrieb hält.

Das Märchen vom Gevatter Tod habe ich in früher Kindheit einmal gehört, vorgelesen aus einem dicken in Leinen gebundenen, am Rücken zerschlissenen und deshalb auseinander fallenden Buch. Wichtiger und einprägsamer als der Text waren für das Kind die Illustrationen: Das Knochengerüst mit übergehängtem Mantel und Kapuze, die die leeren Augenhöhlen und die fleischlosen Zähne beschattete, die skelettierte rechte Hand, die eine Sense mit dem Blatt nach oben umklammerte, und die blossen Knochenfüsse unter dem Mantelsaum, die sich für einen gemessenen und unerbittlichen Schritt offenbar gut eigneten. Eingeprägt hat sich mir nur dieser klar und unmissverständlich gezeichnete Knochenmann, der auf jedem Bild gegenwärtig war und den Blick fing, auch wenn er im Hintergrund zur Erinnerung angedeutet war. Weshalb ich wusste, dass er den Tod darstellen sollte, ist mir nicht erinnerlich. Es ist auch kaum einfühlbar, dass etwas so Persönliches und Unfassbares wie der Tod mit solch klaren, Distanz schaffenden Strichen dargestellt wird. Aber das Kind kümmerte das nicht, der Tod war auf diesen Bildern eine menschliche Figur, die Figur eines entfleischten Menschen. Natürlich waren auch andere menschliche Figuren zu sehen: der Vater, der Sohn, vielleicht die ganze kinderreiche Familie, der König, die Prinzessin – in der Erinnerung nur unklare, zerfliessende Konturen ohne Bedeutung, zumindest ohne Identität. Ich kann den damaligen Eindruck nicht überprüfen, weil ich das Buch nie mehr gesehen habe. Genauso wenig will ich meine Wiedergabe des Märchens überprüfen, das sich in der Erinnerung vielleicht vom Orginal gelöst und verändert hat.

Es war einmal ein armer Fischer, der lebte in einer elenden Hütte, und das Meer gab nur wenig Fisch. Weshalb musste diese Geschichte einem armen Menschen zustossen, weshalb war es ein Mann und nicht eine allein erziehende Mutter? Weshalb lebte er in einer elenden Hütte und flickte sie nicht, wie er sein Boot ja auch immer wieder dicht machen, morsche Bretter auswechseln musste? Zumindest bevor er heiratete und seine Frau in sein Haus holte, hätte er es instand stellen, liebevoll herrichten sollen. Offenbar hat sich dann auch die Frau nicht um das Haus gekümmert und keinen Gemüsegarten angelegt. Vielleicht war sie zu schwach dazu, weil sie zur Befriedigung des sexuellen Dranges des Mannes Schwangerschaften und Geburten in unterbrochener Folge auf sich nehmen und ihnen die ganze Lebensenergie opfern musste. Die Frau ist im Märchen nicht die "Mutter", nur als Gebärerin der Kinderschar und besonders des jüngsten Sohnes spielt sie eine Rolle. Von der Kinderschar sind nur die hungrigen Bäuche beziehungsweise die zahlreichen mit dem wenigen Fisch zu stopfenden Mäuler von Bedeutung. Es gibt kein Sozialamt noch ein Verteilen von Suppe an die Armen, und ein Umzug an einen besseren, ergiebigeren Fischgrund wird nicht in Betracht gezogen. Alle diese, nach meiner heutigen Beurteilung durchaus nicht von Gott gegebenen sondern durch menschliche Kraft verbesserbaren Umstände sind notwendig, damit das Märchen seinen Anfang nehmen, damit die verzweifelte, unabänderliche Situation als Ausgangslage verwendet werden kann.

Es lebte einmal ein armer Fischer. Er lebte in einer erbärmlichen Hütte an einem erbärmlichen Fischgrund und litt erbärmliche Not, weil er nur wenig Fisch fing und auf dem Markt verkaufen konnte. Trotzdem traf er dort auf seine Frau. Wahrscheinlich war sie noch ein junges, blühendes Mädchen voller Liebreiz und Anhänglichkeit. Er erkannte im Mädchen die Lebensfreude und die Lebenshoffnung und liess sich von ihm aus seiner erbärmlichen Situation herauslocken in ein offenes Feld voll duftender Wärme und lichtvollem Sonnenschein. Er heiratete dieses unschuldige Mädchen, das keinen Argwohn kannte, und führte es in seine Hütte. Es erfüllte die Hütte mit seiner Liebe und machte sie zu einem angenehmen, Wohlbefinden weckenden Heim. Aber aus der Liebe entstand das erste Kind, machte aus dem Mädchen eine besorgte Mutter und aus dem glücklichen unbelasteten Mann wieder den erbärmlichen Fischer: Das Körperliche forderte seinen Tribut, von ihm den Fisch, von ihr die Lebenskraft. Und in der Not ohne Ende, die die beiden sich aneinander klammer liess, entstand Kind um Kind, und mit jedem Kind verlor das Heim von seinem Glanz, bis es wieder die erbärmliche Hütte war. Der Fischgrund verlor seine Anziehung für die Fische und wurde wieder zum erbärmlichen Fischgrund, in dem das Netz meist leer blieb.

So lebte der erbärmliche Fischer mit seiner jetzt auch erbärmlichen Frau und den vielen erbärmlichen Kindern in der erbärmlichen Hütte am erbärmlichen Fischgrund – alle und alles war zum Erbarmen! Da entschloss sich noch ein Knabe, in diese Familie zu kommen. Als der Knabe geboren war, geriet der arme Fischer in Verzweiflung, denn dieser Jüngste war nun einfach zu viel. Der Vater verliess Frau und Kinder (sie verschwinden hier aus dem Märchen) und suchte einen Gevatter für seinen jüngsten Sohn, damit dieser ihm die Last abnehme und für den Sohn sorge. Weil die Umstände des Fischers und sein Anliegen in der Gegend wohl bekannt waren, gingen ihm alle Menschen aus dem Weg, er traf niemand. Schliesslich begegnete ihm der Knochenmann mit der Pelerine und der Sense. Der Fischer kannte ihn und dieser kannte den Fischer, weil er schon einige Male in der Fischerhütte ein Kind abgeholt hatte. In seiner Verzweiflung bat der Fischer den Knochenmann, Gevatter seines Kindes zu werden. Dieser willigte ein und übernahm die Verantwortung für den Knaben. Er versprach für das leibliche Wohl zu sorgen und ihm eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Der Tod war für den Fischer der Helfer in der Not. Den Tod musste er nicht suchen, er konnte ihm begegnen, weil er zu jeder Zeit und überall anzutreffen ist. Der Tod bot ihm seine Hilfe an, und ich denke, dass der Fischer diese Hilfe mit Dankbarkeit und Erleichterung annahm – nichts von Angst, Schrecken oder Verzweiflung. Der Tod als Mitmensch, als Freund, dem man vertrauen kann, der immer für einen da ist.

Der Knabe erhielt Kleidung und reichlich Nahrung (ob er sie wohl mit seinen Geschwistern und seinen Eltern teilte, oder ob sein Leben einen separaten, einsamen Weg nahm, an dem die andern keinen Anteil hatten? Für das Märchen ist das unwesentlich, jeder kann sich vorstellen, was ihm angenehm ist. Wenn ich seinen Ehrgeiz und seine spätere Eitelkeit in Betracht ziehe, so denke ich, dass er einen einsamen, isolierten Weg ging. Ein in der fürsorglichen Obhut der Familie aufwachsendes Kind würde lernen sich ganz selbstverständlich einzuordnen und zu teilen auch gegen seinen Vorteil). Er gedieh gut und konnte, durfte, musste die Schule besuchen. Vielleicht hätte er lieber gespielt, gekocht, gefischt. Aber er gehörte zu den Bevorzugten, die von körperlicher Arbeit unfreiwillig dispensiert werden, damit sie sich ganz dem intellektuellen Lernen widmen können. Er wurde zum Arzt ausgebildet und so entwickelte sich allmählich die spannungsvolle Partnerschaft Tod/Arzt. Dass die beiden gute Freunde waren, lässt sich annehmen, denn der Tod war kein berechnender Gevatter, kein Nimmersatt an Menschenleben. Er scheute keine Mühe, einen wirklich guten Arzt aus einem Patenkind zu machen und hielt das Versprechen, das er dem armen Fischer gegeben hatte, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Auch das Patenkind erfüllte alle Erwartungen und begegnete seinem Gevatter Tod zwar respektvoll aber durchaus ebenbürtig.

Aus dieser ausgeglichenen, durch Dauer und Entwicklung tiefen Freundschaft konnte die Abmachung entstehen, dass Tod und Arzt zusammenarbeiten wollten zum Wohle der Menschen. Der Tod versprach dem Arzt, ihm stets beizustehen, die Heilung der Kranken herbeizuführen, wenn menschliches Wissen und Hilfsmittel dazu nicht ausreichten. Der Arzt wollte seinerseits den Tod als (Er)Lösung der Kranken annehmen, wenn der Zeitpunkt des Sterbens gekommen, die Lebensaufgabe erfüllt war. Das Zeichen für Heilung oder Sterben setzte der Tod: Stand er beim Kopf des Kranken, so bedeutete das Heilung, Leben, Einströmen der Lebensenergie in den danieder liegenden Organismus. Stand er bei den Füssen des Kranken, so würde der Kranke mit den Füssen voraus das Zimmer und damit das Leben verlassen. Das war eine gute Abmachung, denn Krankheiten konnten geheilt werden, wenn der Lebensweg sein Ende noch nicht erreicht hatte. Hatte der Lebensweg sein Ende erreicht, so wurde keine nutzlose Verlängerung versucht oder erzwungen. Alle waren damit zufrieden. Dass auch junge Menschen in blühendem Alter sterben mussten, konnte man – wenn auch traurigen Mutes – akzeptieren: Nicht die Länge des Lebens war entscheidend sondern die Erfüllung der Lebensaufgabe.

Der Arzt, jetzt ein junger, stattlicher, selbstbewusster Mann, gewann an Ansehen und Ruhm, weil er erfolgreich war und seine Heilkünste nie dann auszuüben versuchte, wenn der Tod unabwendbar war. Sein Erfolg machte ihn natürlich auch etwas eitel und selbstherrlich, der ausbleibende Misserfolg schwächte seine Demut, seine dienende Haltung. Vielleicht glaubte er zeitweise und - dank der Bewunderung seines Wirkens durch die Mitmenschen - immer häufiger, dass die Heilung durch ihn, durch sein Handeln und Können erfolge, und er vergass dabei die göttliche Allmacht. Es wäre für ihn gut gewesen, wenn er mit seinen Eltern und Geschwistern im Kontakt geblieben wäre und die Bescheidenheit und Begrenztheit menschlichen Handelns am Beispiel seiner Familie immer wieder gesehen hätte. Aber für die Familie blieb keine Zeit (Freunde hatte er nicht), seine Sprechstunde war überfüllt, und er wurde weit herum an Krankenbetten gerufen. Das private, nichtberufliche Leben findet im Märchen keine Erwähnung. Ob es weggelassen wurde, weil es für die Botschaft bedeutungslos ist, oder ob es im Leben des Arztes gar keinen privaten Bereich gab, weil er ein Workaholic, ein Arbeitssüchtiger war?

Nun geschah, was geschehen musste: Die Tochter des Königs wurde todkrank. Der König war reich und mächtig und regierte über ein grosses Land. Er war schon älter und seine Nachfolge bereitete ihm Sorgen, denn er hatte keinen Sohn, und die Prinzessin war noch jung, zu jung für eine strategische Verbindung, für die Verlobung mit dem reichen und mächtigen König oder Thronanwärter eines anderen grossen Landes. In der Prinzessin wollte er fortleben, aber diese wurde immer schwächer und verlor die Lebensfreude. Der König sorgte sich sehr und er rief alle Ärzte auf, ihre Heilkunst an seiner Tochter zu erproben. Es lockte eine gute Entlöhnung und die Reihe der Ärzte riss nicht ab. Kein Mittel blieb unversucht, kein Mittel half, des Königs Geld blieb wertlos, des Königs Macht ohnmächtig. Im Gegenteil: Die Heilversuche raubten der Prinzessin die letzten Kräfte und ihr Leben war nur noch ein schwach flackerndes Licht. In seiner Verzweiflung war der König bereit, seinen ganzen Besitz herzugeben. Er versprach demjenigen Tochter und Thron, dem es gelingen würde, das Blatt des Schicksals zu wenden und die Prinzessin gesund zu machen. Ob das auch der Wunsch der jungen Prinzessin war? Sterben oder mit einem ungeliebten Mann verheiratet zu werden – wahrscheinlich war ihr der Tod vertrauter als irgendein hergelaufener Mann es je werden könnte. Aber die Meinung der Prinzessin war nicht gefragt. Es ging um die Erhaltung des Besitzes des Königs und sein Fortleben in seiner Tochter. Vielleicht war es auch ein hilfloser Ausdruck väterlicher Liebe, dass er sein Kind jedem anderen Mann abtreten wollte, nur dem Tode nicht.

Der junge Arzt hörte die Kunde des Königs, und sie lockte ihn. Es lockte die Gelegenheit, seine Überlegenheit gegenüber allen anderen Ärzten des Landes zu demonstrieren. Er konnte zudem reich und mächtig, der reichste und mächtigste Mann des Landes werden. Er konnte eine junge Frau gewinnen und verdrängte, dass er sie nicht kannte, nicht wusste, ob jemals Liebe sie und ihn verbinden würde. Vom Erfolg verwöhnt war er sich der Sache sicher: Er würde die Prinzessin gesund machen, und er machte sich auf den Weg zum Schloss. Er eilte diesem einzigen Ziel entgegen, blind und taub für alle kranken Menschen, die ihn unterwegs um Hilfe baten. Sie hatten keine Chance mehr, er war gefangen von seiner Aussicht auf Ruhm und Reichtum.

Staubig, verschwitzt, hungrig, durstig und müde wie ein Spitalarzt nach seinem 48-Stundendienst traf er auf dem Schloss ein und mit ihm die letzte Möglichkeit, die Prinzessin zu retten. Er wurde erwartet. Ob er sich ausweisen und einem Sicherheitscheck unterziehen, ob er einer Prüfung durch die Ratgeber des Königs standhalten musste, ist unbekannt aber unwahrscheinlich, denn in der Verzweiflung geht alle Vorsicht und Vernunft verloren. Er betrat hastig das Krankenzimmer oder eher den Krankensaal, das Krankengemach. Der König und seine Begleiter blieben an der Türe zurück, respektvoll, erwartungsvoll. Was der Arzt wohl sah? Wahrscheinlich sah er ein übergrosse Himmelbett und folgte seiner Ahnung, dass in den Bergen von Kissen und Decken die Prinzessin versunken war. Ob er dann die kleine, schmächtige, durchsichtige Prinzessin im Bett entdeckte oder nur den Tod mit der Sense in der Hand, am Fussende des Bettes stehend? Jedenfalls durchfuhr ihn der Schreck des Lebens – das durfte nicht sein! Vor dem Angesicht des Königs und der Weisen des Landes hätte seine Heilkunst jetzt und hier die Krönung erfahren und aus ihm den mächtigsten, reichsten und damit in den Augen der anderen den glücklichsten Mann des Landes machen sollen… und der Tod, sein Pate und Förderer, dem er – ausser seinem Leben – alles verdankte, stand am Fussende.

Sein auf Logik und rasche Entscheidung geschultes Hirn arbeitete mit grösster Intensität, angespornt vom verletzten Stolz und von der erwachten Habgier. Der Tod, sein Freund und Mentor, wurde blitzartig sein Gegenspieler, den es auszutricksen galt. Sterben ja, aber nicht jetzt, nicht die Prinzessin, nicht vor den königlichen Zeugen, nicht auf der Schwelle zur weltlichen Krönung seiner Eitelkeit, seiner Macht über die Krankheit. Lebensverlängerung um jeden Preis, weil der Gewinn (des Arztes) im Leben (der Patientin) liegt, weil der materielle Wohlstand Glück verheisst und möglichst lange ausgekostet werden soll. Für seinen Vater, den armen, über die Geburt des Sohnes verzweifelten Fischer war der Tod der Helfer in der Not gewesen, gegenwärtig überall und jederzeit. Der Sohn aber versuchte jetzt und für immer, den Tod aus dem Raum, aus der örtlichen Dimension zu drängen, auf die Zeitachse zu setzen und auf dieser so weit wie nur möglich hinauszuschieben. Von jetzt an wird es die Aufgabe, das Ziel jeder Heilkunde sein, das Leben zu verteidigen und den Tod daraus zu verbannen. Die Idee vom Leben ohne Tod führte zum Wunsch nach dem ewigen irdischen Leben, den sich die Menschheit mit Hilfe der Medizin erfüllen wollte. Das Gemach der Prinzessin war der Geburtsort dieser modernen Medizin, die sich nur ums Leben, nicht ums Vorher und ums Nachher kümmert.

Der junge Arzt kam zum einzig logischen Schluss, und er rief zwei Diener und befahl ihnen, blitzschnell das Bett der kranken Prinzessin zu drehen: Jetzt stand der Tod beim Kopf und wurde durch diese List zum Zeichen für Genesung und Leben. Warum sich der Tod wohl überlisten liess, warum er der Drehung nicht einfach folgte? Vielleicht weil er damit den Ausgang der Geschichte und ihrer Aussage gefährdet hätte. Vielleicht auch wegen der Rolle der Zeit: Während der Arzt zur Rettung des Erdenlebens blitzschnell handeln musste, konnte sich der Tod Zeit lassen, weil er ausserhalb dieser, unserer Zeit stand. Ihm blieb die unsterbliche Seele der Prinzessin gewiss, für ihn war die Rettung, die Verlängerung ihres Erdenlebens deshalb kein Problem.

Wahrscheinlich wurde die Prinzessin gesund. Ob der Arzt dazu chemische oder physikalische Behandlung anwandte, ist unbekannt. Es handelte sich wohl eher um einen Impuls zur Selbstheilung, um die Wirkung der universellen Lebensenergie. Zur Anerkennung der guten Absicht des Arztes und seiner aus menschlicher Begrenztheit gewachsenen Heilkunst, auch ein wenig zur Pflege der Standeseitelkeit, wollen wir die Drehung des Bettes aber den therapeutischen Massnahmen der Spitzenmedizin zuordnen. Ihr gehöre der Verdienst an der Genesung, damit alles seine menschliche Ordnung hat.

Der Tod verschwand aus der Wahrnehmung des Arztes. Die andern im Gemach hatten ihn zwar nie gesehen, nur als bedrückende Angst gespürt. Mit der Mitteilung an den König, dass seine Tochter gesund würde, wandelte sich die Angst in Freude und Erleichterung. Der Triumphator liess sich beglückwünschen, vom König vielleicht sogar umarmen. Die Prinzessin geriet in ihrem Kissenberg ganz in Vergessenheit. Jedenfalls ist nicht bekannt, dass sie sich augenblicklich vom Bett erhob und in neu geborener jungendlicher Schönheit den Arzt küsste und für ewig in ihr Herz und Leben schloss. Mit der Heilung wird die Geschichte der Prinzessin uninteressant, sie war nur Instrument zur Illustration. Wir lassen sie ihren Weg unbeachtet gehen und behalten sie im Gedächtnis als junges, unschuldiges, wahrscheinlich unglückliches Mädchen ertrinkend in einem Meer von Kissen und Respektbezeugungen.

Ganz benommen von seinem genialen Einfall trat der Arzt in den Park und traf dort, auf einer Bank wartend, seinen Gevatter. Beide liessen sich nichts anmerken, der Tod nicht, dass er übertölpelt worden war, der Arzt nicht, dass er die vereinbarten Regeln der Kunst missachtet hatte. Der Tod anerbot sich, seinem Zögling noch sein grösstes Geheimnis zu zeigen, und er führte ihn in eine Höhle. In dieser Höhle gab es ein unendliches Meer von Kerzen, ganz grosse, ganz kleine, still leuchtende, kläglich flackernde, sich entzündende und verlöschende. Die Kerzen symbolisierten die menschlichen Leben auf Erden, die langen Leben, die kurzen Leben, die stabilen gesunden Leben und die zerbrechlichen kranken Leben, Geburt und Tod. Der Gevatter forderte den Arzt auf, sich seine Kerze auszusuchen. Lange betrachtete der Beschenkte das leuchtende Meer, mass die Kerzengrössen, beurteilte die Qualität der Flammen und die Helligkeit des ausstrahlenden Lichtes. Schliesslich wählte er eine stattlich grosse Kerze mit ruhiger, nicht gefrässiger Flamme und einer überdurchschnittlichen Helligkeit. Er war zufrieden mit seiner Wahl, denn er deutete sie als ein langes, erfolgreiches Leben bei guter Gesundheit. "Gerne will ich Dir diese Kerze schenken", sagte der Gevatter Tod und stiess sie mit seiner Sense um, sodass sie erlosch.

"Mitten aus seinem jungen Leben gerissen", "unerwartet und viel zu früh von uns gegangen", "ein hoffnungsvolles Leben ist erloschen", "eine erfolgreiche Karriere ist unerwartet abgebrochen", "sein Leben war Arbeit und Erfolg", "Die Welt trauert - Thronfolger plötzlich gestorben" – es gibt unzählige Formulierung, um die Unersetzbarkeit eines Menschen auszudrücken. Dabei hat der Arzt nur seine eigene Sterblichkeit erfahren, die göttliche Allmacht, die den Tod mit dem Leben verwebt, damit wir Bescheidenheit und Demut lernen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!

Tönet Töndury
Schlössliweg 14, CH-8702 Zollikon
e-mail: toendury [at] gmx.net

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