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Trilogisches aus dem Archiv

blindekuh – Wo Dunkelheit zum Erlebnis wird

„Vertrauen ist eine der grössten Grundkräfte im Leben…“

Wir haben für Sie noch einmal in unserem über 30jährigen Fundus nachgeschaut und zu diesem Thema passend erneut hier aufgeschrieben:


Ein Interview mit Pfarrer Jürg Spielmann / 2008 Von Corinna Ouboter, CH-Küsnacht

Corinna Ouboter (CO): Es gibt eine Aussage, die wir Sehenden oft verwenden: «Sehen heisst glauben». Sie selbst sind schon seit Ihrer Kindheit blind. Was heisst für Sie nicht sehen?

Jürg Spielmann (JS): Ich würde meinen, es heisst vertrauen. Die Aussage «ich glaube nur was ich sehe», kommt aus der Moderne und bedeutet soviel, dass man heute alles empirisch und rational mit den Sinnen überprüfen muss, damit man es schlussendlich auch glaubt. Eigentlich ist aber der Schluss falsch. Sehen heisst Wissen, wäre eher folgerichtig. Sehen heisst glauben ist nicht mehr zeitgemäss, entspricht es doch eher dem Weltbild der Antike oder des Mittelalters, in welchen Wissen und Glauben noch viel näher beieinander lagen. Zu jenen Zeiten wusste man noch nicht soviel, also musste man mehr glauben. Vertrauen ist eine der grössten Grundkräfte im Leben, wenn man nicht sieht. (Weiterlesen…)

CO: Gibt es einen anderen Sinn, der wichtiger und stärker wird, wenn man das Augenlicht verloren hat?

JS: Eigentlich alle anderen Sinne: Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Das Zusammenwirken oder Ineinanderspielen dieser Restsinne kompensiert das fehlende Sehen. Wenn man aber eine Hierarchie unter diesen Restsinnen machen müsste, gewinnt das Gehör sicher die grösste Bedeutung. Alleine aber kann auch das Gehör nicht gleichviel kompensieren wie das Zusammenspiel aller Restsinne.

CO: Entwickelt sich zusätzlich ein «siebter Sinn» durch den Verlust der Augen?

JS: Vermutlich ist es das, was man auch mythologisch seit der Antike dem blinden Mensch zuschreibt: das Sehen. Viele Seher waren ja blind und sahen im medialen Sinn fast mehr. Manchmal traut man uns Blinden zu, dass wir sogar mehr sehen, im Sinne von Gedanken lesen. Ich glaube aber, dass Medialität nicht mit blind sein zusammenhängt. Da das Äussere uns vor allem über das Auge erreicht, wird natürlich ein Blinder viel weniger abgelenkt. So hört er z.B. emotional und seelisch viel mehr aus einer Stimme heraus als ein sehender Mensch. Ich nehme Ihre nonverbale Kommunikation – wie Sie Ihre Hände halten, wie Sie mich ansehen, wie Sie im Stuhl sitzen – nicht wahr, auch nicht wie Sie gekleidet sind. Ich glaube, dass mir eine Stimme daher eindeutigere oder wahrere Hinweise über das Wesen eines Menschen geben kann.

CO: Dies setzt aber auch ein klareres Zuhören voraus.

JS: Ja, ich muss mich sehr konzentrieren und auf mein Gegenüber einstellen. So gesehen wäre für mich das Merkmal der Kultur des Nichtsehens die Intensität. Ich glaube, dass man als Blinder die Menschen intensiver wahrnimmt. Dafür kann ich eine Gruppe oder Menschenansammlung nicht wahrnehmen. Diese sind für mich eher diffus. Ein oder zwei Personen – wenn ich akustischen Überblick habe – kann ich aber sehr intensiv wahrnehmen. Aufgrund dessen kann ich vermutlich auch sehr präsent sein als Person, mit meiner Stimme. In meinem Beruf als Pfarrer sage ich den Leuten immer wieder, dass ich ihnen nicht über den Platz zulächeln kann und auch nicht den ersten Schritt auf sie zumachen kann, weil ich ja gar nicht weiss, wo sie sind. Wenn sie aber auf mich zukommen, mache ich sehr gerne den zweiten Schritt, dafür intensiver.

CO: Dieses Beispiel zeigt uns auch sehr klar, wie sehr die Einfühlsamkeit von uns Sehenden verlangt ist, und dass es eigentlich zu keiner Begegnung kommen kann, wenn nicht wir den ersten Schritt tätigen.

JS: Es zeigt auch, dass man uns nichts Übersinnliches zuschreiben soll und wie wichtig die Kommunikation ist. Ohne dass sich jemand zu erkennen gibt, kann es zu keinem Kontakt mit uns kommen. Es ist sogar ideal, wenn man auf der Strasse einen blinden Menschen anspricht, oder ihn kurz an der Schulter antippt, damit die akustische Wahrnehmung durch eine taktile unterstützt wird. Als Blinder steht man stets unter einem Informationsmangel. Man muss sich z.B. bewusst selbst Informationen holen, um herauszufinden, warum jetzt gerade gelacht wird. Diese Situation weckt manchmal schon den Wunsch, dass man gelegentlich auf übersinnlichem Wege noch etwas mitbekommen würde. So gab es in meinem Leben auch eine Zeit, in der ich mich sehr mit Parapsychologie auseinandersetzte, weil mich Dinge wie Telekinese und Telepathie sehr interessierten. Ich habe aber in jener Zeit diese Sinne – Fernhören, -sehen, -hören – nicht weiterentwickelt. Dennoch sind sie für mich eine Realität und ich bin überzeugt, dass es sie gibt. Leider konnte ich sie für mich nicht entdecken – es wäre für mich als Blinder sicher doppelt interessant. Anderseits bin ich sehr zufrieden über alles, was ich auch so von der Welt wahrnehmen kann.

CO: Ich möchte nun auf etwas ganz anderes zu sprechen kommen. Schon 1998 haben Sie im Museum für Gestaltung bei der Ausstellung «Dialog im Dunkeln» – realisiert von Martin Heller – mitgewirkt. Die Ausstellung fand grossen Anklang. Vor ein paar Monaten ist das Restaurant blindekuh eröffnet worden, von dem Sie selbst der Initiant sind. Wie wird es von der Bevölkerung aufgenommen? Ist es als trendige Erlebnisgastronomie oder eventuell sogar als Erziehungs-gastronomie zu verstehen? Ist es nur interessant, weil es neu ist, oder gehört es schon gar zur zürcherischen Gastronomielandschaft?

JS: Unsere Erfahrungen in den ersten Monaten haben gezeigt, dass die Erfahrungen der Gäste viel tiefer waren, als erwartet. Natürlich sind die Reaktionen nicht bei allen gleich: die einen haben mehr Plausch – abhängig natürlich auch von der Begleitgruppe – andere erleben es eher seelisch, philosophisch. Andere waren schon öfters dort und wollen immer wieder kommen, was uns natürlich viel Hoffnung macht, denn wir wünschen uns, eine Institution zu sein, die sich auch halten kann. Die Abende sind schon weit im Voraus ausgebucht. Ich glaube, dass man die blindekuh mit gutem Gewissen als Erlebnisgastronomie bezeichnen kann. Wir versuchen auch, diesen vorherrschenden Trend in der Gastronomie auszunützen. Erleben ist ja etwas Schönes und heisst soviel wie Heraustreten aus dem Alltag, Abstand gewinnen. Wir bieten auch Bildungsveranstaltungen an, in welchen wir Sinneswahrnehmungen im Dunkeln zeigen wollen, ohne zu sehen. Wir wollen auch aufzeigen, wie man das Leben lebt und bewältigt, wenn man nicht sieht. Dies hat sicher auch einen pädagogischen Effekt. Doch dies stellen wir weder in der Werbung noch im Verkauf in den Vordergrund, denn wir möchten, dass die Leute das herausnehmen, auf das sie Lust und wozu sie das Bedürfnis haben. Wir möchten auf keinen Fall als moralisierende Erziehungsanstalt auftreten. Wenn aber das Erlebnis zur Folge hat, dass man blinde und behinderte Menschen mit anderen Augen ansieht, umso besser!

CO: Verstehe ich richtig, dass es nicht nur um das Verständnis der Blinden, sondern generell um behinderte Menschen geht?

JS: Ich würde sagen, dass es um den zwischenmenschlichen Aspekt geht; Beziehungen und Begegnungen zwischen den Menschen, ganz egal welcher Art. Wir sind ja häufig geprägt von visuellen Vorurteilen. Diese entfallen aber gänzlich im Dunkeln. Nicht nur Behinderte, auch Menschen, die darunter leiden, dass man sie anschaut, erleben im Dunkeln was es heisst, aufgrund von ihrer Stimme oder Ausstrahlung auf eine ganz andere Art wahrgenommen zu werden.

CO: Stimmen Sie mit mir überein, dass die Erfahrung über das eigene Gefühl – durch direktes Erleben – am ehesten Verständnis für andersartige Menschen ermöglicht?

JS: Nicht nur. Es ist ja eine ganzheitliche Erfahrung, die man im Dunkeln macht. Natürlich ist der emotionale und gefühlsmässige Aspekt gross. Ich gehe mit Ihnen insofern einig, dass es viel einfacher ist, sich in die Situation eines blinden Menschen einzufühlen, wenn man die Erfahrungen im Dunkeln selbst gemacht hat. Natürlich ist es nicht identisch. Wir Blinden haben mehr Training und sind weniger hilflos. Aber auch Sie merken, dass Sie schon nach einer halben Stunde im Dunkeln mehr können als anfangs. Das Erlebnis selbst erklärt mehr als alle Worte. Insofern handelt es sich um exemplarisches Lernen. So gesehen ist unser Projekt blindekuh auch ein mögliches Übungsfeld für Integration. Integration im Sinne von: die Fremden/Aussenstehenden müssen sich anpassen und so werden wie diejenigen in der Mitte. Integration findet dann statt, wenn beide einen Schritt aufeinander zu machen und merken, dass sie sich gegenseitig sogar noch etwas geben können. So können wir gegenseitig unseren Horizont erweitern.

CO: Nun kann man in der blindekuh nicht nur essen. Auf dem Programm stehen z.B. Philosophieren im Dunkeln, Gitarrennacht mit Max Lässer, Vier Krimis und eine Nacht u.s.w. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht, von Seiten der Künstler und Zuhörer.

JS: Die Künstler waren durchwegs begeistert. Die Musiker erleben sich selbst in einer ganz anderen Art. Nicht zuletzt, weil sie alles, was sie spielen, auswendig lernen müssen, also einen Zusatzaufwand betreiben müssen, was ich ihnen allen hoch anrechne. Beim Improvisieren entsteht offenbar eine ganz andere Dynamik, weil die Musiker ganz im Klang vom Instrument oder der Performance sind. Auch in Gesprächen und Begegnungen nach den Konzerten sahen sie das Konglomerat von ihren Erfahrungen, Performance und Erleben als etwas ganz Eindrückliches. Albert Meyer, welcher den Abend Philosophieren im Dunkeln leitete, berichtete mir in einem e-mail, dass er die ganze Gesprächskultur als viel angenehmer erlebte. Die Gespräche waren ruhiger, man liess sich eher ausreden, die Atmosphäre war entspannter, da man ja auch nicht beobachtet wird. Gedanken wie «der da hinten mit der auffälligen Krawatte, hat eine grosse Meinung von sich» entfallen natürlich im Dunkeln. Von Seiten der Gäste wurde das Klang-, Worterlebnis und die Gesprächskultur auch anders erfahren als am Licht. Wir sind froh, dass wir neben der Gastronomie die Kultur als Türöffner haben – geniessen und wieder gehen.

CO: Mir scheint, dass die Konzentration auf beiden Seiten fokussierter ist.

JS: Das ist sicher so.

CO: Wird die Plattform blindekuh auch von Schulen und Firmen auf einer freiwilligen Basis genutzt?

JS: Diese dritte Angebotsschiene wird sehr genutzt. Über das Pestalozzianum haben wir schon 40 Klassen untergebracht. Natürlich muss man bei Schülern ganz anders darauf zugehen. Wichtig ist, dass die Schüler/Jugendliche vorher sensibilisiert werden – warum machen wir dies. Denn es liegt in der Natur, dass Jugendliche aus allem ein Spiel machen und versuchen, die neuen Grenzen im Dunkeln auszutesten. Bei guter Vorbereitung wird es aber auch für Kinder und Jugendliche zu einem spannenden Erlebnis werden. Auch Firmen nutzen unser Angebot rege zur Weiterbildung oder als kulturelles Angebot: diverse Banken, das Sozialdepartement der Stadt Zürich, Kindergärtnerinnenseminare, Krankenschwestern etc.

CO: Zum Schluss möchte ich Sie fragen, was Sie sich am meisten von uns Sehenden im täglichen Zusammenleben mit den Blinden und Behinderten wünschen.

JS: Dass man versucht, uns möglichst als Menschen wie andere zu sehen und wegkommt von den fixen Bildern vom Blinden. Seht uns zuerst als Mensch und dann erst als Mensch mit einer besonderen Eigenschaft, die eine gewisse Hilfsbedürftigkeit mit sich zieht. Wir wollen nicht wie Leute von einem fremden Stern behandelt werden, sondern auch dazugehören. Ich wünsche mir, dass Unterschiede zwischen den Menschen grundsätzlich nicht so sehr wie jetzt trennend wirken, sondern sogar als Bereicherung wahrgenommen werden können und auf diesem Wege Menschen zusammenführen. Es scheint mir noch wichtig hier anzufügen, dass wir mit der Blinden Kuh für Blinde auch einen neuen Berufszweig kreiert haben. Die Berufswahlmöglichkeiten für einen blinden Menschen sind ja sehr eingeschränkt – bedeutend eingeschränkter als z.B. für jemand, der querschnittgelähmt ist – weil so viele Berufe das Sehen erfordern. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten spitzt sich diese Situation auch noch zu. Nur weil in der Blinden Kuh die Gäste nicht ungeführt herumlaufen, ist es für Blinde auch möglich, im Service zu arbeiten. Dazu kommt auch noch, dass es – mehr noch als im üblichen Kellnerberuf – auch Begegnungen ermöglicht. Die erste Begegnung findet schon beim Betreten des Restaurants statt, wo jeder Gast von seinem blinden KellnerIn an seinen Tisch geführt wird. Bei uns gehören die gute Bedienung und die Begegnung zum Markenzeichen. Zudem haben die Leute, die bei uns im Service arbeiten die Möglichkeit, bei sog. Begegnungen mit Betroffenen teilzunehmen, Rede und Antwort zu stehen, aus ihrem Leben und Beruf zu erzählen. Sollte das Bedürfnis vorhanden sein, gibt es vielleicht schon bald auch in Bern oder in Genf eine weitere blindekuh. Solche Arbeitsplätze sind gefragt, denn für den Service im Dunkeln werden Erfahrungen verlangt, welche nur blinde Menschen haben; deshalb nennen wir sie auch die Profis im Dunkeln. Jeder, der zu uns ins Dunkle kommt, unterstützt somit auch diese neuen Arbeitsplätze. Zur Preisgestaltung möchte ich noch anfügen, dass wir auf Qualität sehr Wert legen und vergleichbar mit einem Restaurant natürlich mehr Personal benötigen, da wir z.B. die Gäste auch herein und hinaus begleiten. Wir sind weiterhin auch auf Spenden angewiesen. Ob wir das ursprüngliche Ziel, selbsttragend zu werden, erreichen können, wissen wir noch nicht. Der Mehraufwand punkto Personal ist bedeutend grösser als wir dachten. Wir sind eine gemeinnützige Stiftung, d.h. jeder Gewinn gelangt in diese Stiftung und wird in weitere blindekuh Projekte investiert.

CO: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Quelle: Archivbeitrag –ELEMENTI Frühjahr 2000 / Interview


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