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Wissenschaft - Theologie / Mystik

Meister Eckhart - Die Seele, ihre Erkenntnisweisen und ihr Verhältnis zu Gott

In dieser Rubrik wollen wir einen direkten und zeitgenössischen Bezug zu einem einzelnen Fachbereich der Wissenschaft bringen, den wir für lesenswert erachten unter unserem Monatsthema:


Das Leben

Die Seele ist das Prinzip des Lebens, denn sie steuert das Lebewesen von innen her und bewirkt damit, dass es sich selbst bewegt, worin das Wesen des Belebtseins besteht. Das Leben fließt unmittelbar von Gott, es ist „Gottes Sein“ und Ausdruck seiner Präsenz, es quillt aus seinem Eigenen und ist Selbstzweck („ohne Warum“). Daher ist für Eckhart nichts so begehrenswert wie das Leben, auch unter schlimmsten und beschwerlichsten Umständen.

Der Seelengrund

Die Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem vergänglichen Geschaffenen ist bei Eckhart so tief, dass nichts Geschaffenes einen Zugang zu Gott finden kann. Das Untere fasst und begreift das Obere nicht.[1] Die Beziehungen zwischen Gott und seinen menschlichen Geschöpfen stehen aber im Mittelpunkt der christlichen Lehre, und auch Eckharts Denken kreist um sie. Diesen Widerspruch beseitigt Eckhart, indem er die menschliche Seele hinsichtlich ihres Kernbereichs nicht dem Bereich der geschaffenen Dinge zuordnet, sondern ihr eine göttliche Qualität zuspricht. Die Gottheit selbst ist unmittelbar zuinnerst in der Seele ständig anwesend. Somit ist in der Seele etwas, dem die Ungeschaffenheit, Unvergänglichkeit und Eigenschaftslosigkeit der Gottheit zukommt. Der Kernbereich der Seele ist ewig und einheitlich wie Gott, genauer gesagt wie Gott als „Gottheit“ oberhalb der Dreifaltigkeit. Eckhart spricht ausdrücklich von einem „Teil“ der Seele, der im Unterschied zu den anderen Teilen „gottgleich“ ist.[2] Der göttliche „Teil“ der Seele ist aber nicht ein Teil eines Ganzen neben anderen Teilen, sondern von all dem in der Seele, was geschaffen ist, seiner Natur nach fundamental verschieden. Ausdrücke wie „Teil“ und „in der Seele“ scheinen eine Position anzudeuten. Sie sind aber nur in einem übertragenen Sinn gemeint, denn sie erwecken die Vorstellung einer räumlichen Struktur, womit sie der gemeinten Realität nicht gerecht werden.

Der göttliche Kernbereich der Seele, ihr „Innerstes“, ist der zeit- und raumlose „Seelengrund“, in dem völlige Ruhe herrscht. Eckhart verwendet dafür auch andere Bezeichnungen. Unter anderem spricht er vom „Fünklein“ oder „Bürglein“, vom „Höchsten“, „Lautersten“ oder „Haupt“ der Seele; auch mit dem „Intellekt als solchem“ meint er den Seelengrund. Er betont aber auch, dass der Seelengrund eigentlich so wie die Gottheit namenlos ist.[3] Das Fünklein leuchtet immer, ist aber verborgen. Der Seelengrund steht so hoch über der Sinneswelt wie der Himmel über der Erde. Von diesem unwandelbaren Kernbereich unterscheidet Eckhart die äußeren Bereiche, in denen sich die Tätigkeiten der Seele abspielen. Dort treten die Ausdrucksformen ihrer weltlichen Aktivität wie Begehren, Gedächtnis und Wille in Erscheinung. Sie werden benötigt, damit die Seele den Erfordernissen ihrer Verbindung mit dem Körper Genüge tun und mit den geschaffenen und vergänglichen Dingen in Kontakt sein kann. Davon ist der Seelengrund abgetrennt; die Eindrücke, die aus der Welt der Sinneswahrnehmung einströmen, erreichen ihn nicht. Er ist ihnen so fremd und fern wie die Gottheit, denn der Seelengrund ist von der Gottheit ununterschieden.[4]

Von den vergänglichen und daher nichtigen Aspekten seines Daseins kann der Mensch sich emanzipieren, indem er sich dem zuwendet, was in ihm – das heißt in der Seele – göttlich ist. Dank Gottes Anwesenheit in der Seele ist ihre Selbsterkenntnis Gotteserkenntnis.[5] Unter diesem Aspekt sind alle menschlichen Seelen gleich. Die hier gemeinte Gotteserkenntnis ist nicht eine reflektierte, in der ein Subjekt einem Objekt betrachtend gegenübersteht, sondern eine unmittelbare, in der keine Distanz zwischen dem Erkennenden und seinem göttlichen Erkenntnisobjekt besteht. Während bei einer reflektierten Erkenntnis eine Abstraktionstätigkeit stattfindet, mit der aus einem Abbild dessen Urbild erschlossen wird, vollzieht sich die Gotteserkenntnis ohne jegliche Vermittlung: Das muss geschehen ohne Mittel und Jederart Vermittlung ist Gott fremd.[6]

Intellekt und Wille

Als höchste Manifestation seelischer Aktivität betrachtet Eckhart wie andere Dominikaner den Intellekt und nicht – wie manche Franziskaner – den Willen. Dem Willen misstraut er, denn er sieht in ihm den gottfernen, auf das Geschaffene abzielenden Eigenwillen, der auch dann, wenn er sich auf Gott richtet, die Getrenntheit von Subjekt und Objekt, Seele und Gott voraussetzt: Darum ist die Vernunft allwegs nach innen suchend. Der Wille hingegen geht nach außen auf das hin, was er liebt.[7] Der Intellekt ist diejenige Instanz in der Seele, welche die Informationen, die aus der Außenwelt kommen, auswertet, indem sie das Materielle vom Geistigen (Intelligiblen) trennt und so zum Verständnis des Allgemeinen (der Ideen) gelangt, indem sie die Ideen von den Sinnesobjekten abstrahiert. der Intellekt macht das spezifisch Menschliche am Menschen aus.[8] Dabei verwendet Eckhart den Begriff Intellekt in einem anderen Sinn als dem heute gängigen. Der Intellekt „als solcher“ (intellectus inquantum intellectus) ist für Eckhart nicht eine der Fähigkeiten („Seelenvermögen“) oder Instrumente, über welche die Seele verfügt, sondern eine eigenständige in der Seele tätige Instanz. Er ist etwas nicht Geschaffenes, sondern Göttliches im Menschen, das einer Dimension oberhalb von Raum und Zeit angehört.[9]

Die Stufen der Erkenntnis

Die Seele gelangt auf unterschiedliche Weisen zur Erkenntnis verschiedenartiger Gegenstände. Die Sinnesorgane vermitteln ihr zwar Informationen aus der Sinneswelt, doch ihr Wissen über diesen Bereich entnimmt sie nicht der Sinneswahrnehmung, sondern sie trägt es bereits latent in sich und wird durch das, was über die Sinnesorgane hereinkommt, nur an dieses schon vorhandene Wissen erinnert. Hierfür beruft sich Eckhart auf Augustinus sowie auf Platon, der versucht hatte, das Wissen als etwas in der Seele bereits Angelegtes zu erweisen (Anamnesis-Konzept). Eine höherrangige Erkenntnis verdankt die Seele den fünf „inneren Sinnen“, die Eckhart gemäß dem gängigen Modell Avicennas, auf den er sich in seinem Kommentar zur Weisheit Salomos bezieht,[10] annimmt: dem Gemeinsinn (sensus communis), der Vorstellungskraft (vis imaginativa), der für die Begriffe zuständigen Denkkraft (vis cogitativa), der Beurteilungskraft (vis aestimativa) und dem Gedächtnis (memoria). Sie ermöglichen ihr, sich etwas nicht Gegenwärtiges vorzustellen und dessen Bedeutung einzuschätzen. Über den inneren Sinnen steht das auf äußere Dinge bezogene Erkenntnisvermögen des schlussfolgernden Verstandes (ratio) und über diesem als höchstes Erkenntnisvermögen der auf Gott hingeordnete Intellekt, den Eckhart auch „höheren Verstand“ (ratio superior) nennt und als Abbild Gottes bezeichnet. Mit „Intellekt“ bezeichnet Eckhart sowohl den intellectus agens, den „aktiven Intellekt“, der die Erkenntnisbilder abstrahiert, als auch den intellectus possibilis, den „möglichen“ oder „passiven“ Intellekt, der nicht handelt, sondern nur empfängt. Im Unterschied zur gesamten aristotelischen Tradition und insbesondere zu Dietrich von Freiberg fasst Eckhart jedoch den passiven Intellekt als den höheren auf.[11]

Die Gottesgeburt in der Seele

Die Hinwendung zu Gott soll zu einer Erfahrung führen, die in Eckharts Lehre eine zentrale Rolle spielt. Er nennt sie Gottesgeburt in der Seele. Gemeint ist, dass die Seele die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahrnimmt und so Gott in sich selbst findet. Sie wird nicht etwas, was sie vorher nicht war, sondern erkennt das, was sie überzeitlich ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und erfasst die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung.[13] Es handelt sich nicht um ein punktuelles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern um einen fortdauernden Vorgang ohne Ende. Die Betonung der Prozesshaftigkeit des Geschehens ist ein besonderes Merkmal von Eckharts Denken.

Die Gottesgeburt in der Seele geschieht, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, zwangsläufig. Sie zu veranlassen ist für Gott eine Naturnotwendigkeit, er folgt dabei seiner eigenen Natur, könnte also gar nicht anders wollen und handeln: Er muss es tun, es sei ihm lieb oder leid und Gottes Natur, sein Sein und seine Gottheit hängen daran, dass er in der Seele wirken muss.[14] Die Grundlagen der Gottesgeburt sind nicht der Glaube, ein Gefühl oder eine Vision des betreffenden Individuums, sondern seine Erkenntnis und Vernunft („Vernünftigkeit“).


Quellen:

  1. Dietmar Mieth: Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst. Düsseldorf 2004, S. 11–13.
  2. Meister Eckhart, Expositio sancti evangelii secundum Iohannem 280, Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 234 Z. 16 f.
  3. Meister Eckhart, Predigt 2, Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 44 Z. 5 f. = Ausgabe Largier (1993) Bd. 1, S. 36 f.;
  4. Zur Begriffsbestimmung und Terminologie siehe Peter Reiter: Der Seele Grund. Würzburg 1993, S. 406–421.
  5. Burkhard Mojsisch: Meister Eckhart. Hamburg 1983, S. 139–143.
  6. ↑ Meister Eckhart, Traktat 1, Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 117 = Ausgabe Largier (1993) Bd. 2, S. 330 f.: Wenn aber die Seele erkennt, dass sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich Erkenntnis von Gott und von sich selbst.
  7. ↑ Meister Eckhart, Traktat 1, Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 114 Z. 21 = Ausgabe Largier (1993) Bd. 2, S. 324 f.; Predigt 71, Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 227 = Ausgabe Largier (1993) Bd. 2, S. 74 f. Siehe dazu Michael Egerding: Got bekennen. Strukturen der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart. Frankfurt a. M. 1984, S. 123–130.
  8. ↑ Meister Eckhart, Predigt 69, Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 174 Z. 6 f. = Ausgabe Largier (1993) Bd. 2, S. 50 f. Siehe dazu Gerard Visser: Ein nur noch von „Gottheit“ berührtes Gemüt. In: Rolf Kühn, Sébastien Laoureux (Hrsg.): Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens, Freiburg 2008, S. 288–321, hier: S. 300 f.
  9. ↑ Heribert Fischer: Meister Eckhart. Freiburg 1974, S. 110–112; Loris Sturlese: Meister Eckhart. Ein Porträt, Regensburg 1993, S. 10.
  10. ↑ Loris Sturlese: Meister Eckhart. Ein Porträt. Regensburg 1993, S. 12.
  11. ↑ Gotthard Strohmaier: Avicenna. München 1999, S. 148.
  12. ↑ Christian Jung: Meister Eckharts philosophische Mystik. Marburg 2010, S. 96–103.
  13. Meister Eckhart, Predigt 38, Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 228 Z. 1–3 = Ausgabe Largier (1993) Bd. 1, S. 406 f.

Meister Eckhart (auch Eckehart, Eckhart von Hochheim; * um 1260 in Hochheim oder in Tambach; † vor dem 30. April 1328 in Avignon)
war ein einflussreicher thüringischer Theologe und Philosoph des Spätmittelalters.

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